Es war befreiend. Schon über dieses Gefühl muss man sich wundern. Denn als Marcel Reich-Ranicki vor den laufenden Kameras des Deutschen Fernsehpreises sagte, das Fernsehen sei größtenteils Blödsinn – was sagte er eigentlich Neues, Bahnbrechendes, Welteinstürzendes? Nichts.

Doch trotzdem empfanden wir es als eine Erlösung: Jemand sagt den versammelten Hurrarufern, Jubelpersern, Spaßmachern, dass ihre Arbeit ein Nichts ist. Und was taten diejenigen, die gemeint waren? Sie klatschten, sie lachten, erst spät verfinsterte die Erkenntnis manches gebräunte, telegen geschminkte Gesicht. Der 88 Jahre alte Kritiker hatte eine ganze Branche infrage gestellt. Ihre Branche, den ganzen Betriebsnudelauflauf.

Reich-Ranicki sagte, er gehöre nicht hierher. Nicht zu dieser Industrie, die tagtäglich daran arbeitet, das Unterhaltungsniveau weiter zu senken. In der Menschen zu Promis gemacht werden, ohne etwas getan zu haben. In der Kulturkritik kaum Platz findet, außer als Karikatur. In der wertvollere Filme zwischen Hausfrauenquiz und fader Alberei stattfinden. Der Ärger, das Unbehagen war ihm anzusehen und brach sich Bahn.

Wir seufzen: endlich.

Doch die Wirkung ist gering. Ändern wird sich nichts. Als gute Showeinlage wird es vielen in Erinnerung bleiben, wie Reich-Ranicki auf die Bühne schritt und respektlos sein Urteil aussprach, wie er es immer tut. Er ist Kritiker, seinen Job nimmt er ernst.
Aber im Kontext Fernsehen, in dieser unterhaltungsgeilen Industrie wird seine Kritik erst als Skandal, später als großer Moment verklärt werden: Großes Fernsehen! In der Rückschau kaum unterscheidbar vom Moment, als bei Wetten, dass...? jemand mit einem Gabelstapler ein Kartenhaus baute. Reich-Ranickis ernstes Urteil, es wird bald verpuffen.

Das ZDF kann Thomas Gottschalk danken, dass er dem Kritiker zur Seite schritt. Diese Kritik konnte er nicht wegmoderieren, wegalbern schon gar nicht. Also tat er seinem Sender den großen Gefallen: Wenn man seinen Feind schon nicht belehren kann, macht man ihn sich eben zum Freund. Reich-Ranicki willigte ein.

So wird es bald im Abendprogramm eine Sendung geben, in der Reich-Ranicki über all das reden kann, was ihm sonst im Fernsehen fehlt. Die Kritik wird ins Warmbadebecken des öffentlich-rechtlichen Fernsehens überführt. Es wird eine große Abendshow! Trailer werden laufen, pädagogisierende Kulturtipps, alle werden dabei sein, die Intendanten im Studio, die Zuschauer vor dem Bildschirm. Sie werden jedes Wort beklatschen, denn sie sind ja kein Teil dessen, was kritisiert wurde. Hinterher haben sich alle wieder lieb, Reich-Ranicki das Fernsehen, das Fernsehen ihn.

Wir werden hernach umschalten. Es läuft ja immer irgendetwas anderes.


Von David Hugendick © ZEIT ONLINE