Polizei geht mit Gewalt gegen Stuttgart 21-Gegner vor
Polizei geht mit Gewalt gegen Stuttgart 21-Gegner vor
Bei der Absperrung von Teilen des Stuttgarter Schlossgartens für Bauarbeiten zum umstrittenen Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21" ist es zu massiven Protesten gekommen. Die Polizei setzte nach Angaben eines Sprechers auch Wasserwerfer und Pfefferspray ein, um Blockaden von Demonstranten aufzulösen. Rund tausend Polizeibeamte aus Baden-Württemberg und anderen Bundesländern waren im Einsatz.
Am Abend begann die Polizei damit, Gegner des Bahnprojekts von den Bäumen im Schlossgarten zu holen. Spezialkräfte der Stuttgarter Polizei setzten einen Kran mit Hebebühne ein. Außerdem versuchten Beamte vier Aktivisten, die sich um einen Baum herum angekettet hatten, loszueisen. Im Schlossgarten protestierten noch immer Tausende gegen die Räumung von Teilen des Parks für die Baumfällarbeiten. Ein Sprecher der sogenannten Parkschützer, Matthias von Herrmann, erwartet noch einen starken Zulauf für die Proteste: "Der Schlossgarten wird heute Abend und in der Nacht richtig voll."
Hunderte Demonstranten verletzt
Am Morgen hatten die Beamten versucht, ein für die Grundwasseraufbereitungsanlage im Rahmen der Bauarbeiten vorgesehenes Gelände frei zu räumen und abzusperren. In dem Gebiet müssen 25 Bäume gefällt werden. Tausende Demonstranten waren dem Aufruf der "Parkschützer" gefolgt und strömten in den Schlossgarten um die Polizei beim Errichten von Absperrungen zu behindern.
Viele Demonstranten beklagten, die Beamten seien auch mit Reizgas, Schlagstöcken und Fausthieben gegen die Masse vorgegangen, darunter auch gegen Kinder. Nach Angaben eines Rettungsassistenten sind bei dem Polizeieinsatz fast 400 Menschen leicht verletzt worden. 320 Menschen mit Augenverletzungen durch Pfeffersprays seien in einem provisorisch eingerichteten Camp für die Erstversorgung behandelt worden, sagte Christoph Hoffmann. Hinzu kämen 40 bis 50 Demonstranten mit anderen Verletzungen, etwa Prellungen, Platzwunden am Kopf, blutige Nasen.
Zuvor hatten bereits die Projektgegner von Hunderten Verletzen gesprochen. Die Krankenhäuser in Stuttgart seien überlastet. Insgesamt hätten bis zum späten Nachmittag etwa 1000 Menschen Augenverletzungen erlitten. Bei einer minderjährigen Demonstrantin sei eine Gehirnerschütterung festgestellt worden. Ein Polizeisprecher sagte, er könne zur Zahl der Verletzten keine Angaben machen. Er mahnte aber zur Vorsicht im Umgang mit den Zahlen der Demonstranten.
Die Demonstranten quittierten den Polizeieinsatz mit lautstarken Pfiffen. Für die Nacht sind die ersten umstrittenen Baumfällungen geplant. Nach Angaben eines Sprechers der Parkschützer versammelten sich mindestens 3000 bis 4000 Menschen im Schlosspark, die Polizei sprach von 1000 bis 2000.
Polizei verteidigt hartes Vorgehen
Ein Sprecher der Polizei verteidigte das Vorgehen: Wenn die Demonstranten sich nicht rechtlich einwandfrei verhielten, "dann kann die Polizei auch mal hinlangen", betonte er. Die Beamten müssten jetzt mit sehr vielen Kräften den Weg frei räumen. Dafür seien Wasserwerfer und Polizeireiter im Einsatz. Ob dabei auch Schlagstöcke verwendet wurden, konnte er nicht sagen. "Es wird unmittelbarer Zwang angewandt", sagte er lediglich.
Der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) räumte indirekt ein, dass bei dem Polizeieinsatz Kinder verletzt wurden. "Es war ein trauriger Tag für Stuttgart. Die Vorkommnisse machen sehr betroffen. Ich bedauere sehr, dass Menschen verletzt wurden und vor allem dass Kinder und Jugendliche zu Schaden gekommen sind", sagte Schuster. Es werde derzeit geprüft, wie es dazu kommen konnte.
Künast macht Merkel mitverantwortlich
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles warnte vor einer Eskalation der Gewalt. Nur Besonnenheit könne zu einer tragfähigen Lösung des Konflikts führen. Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) trage die Verantwortung, "Staat und Bürger nicht weiter gegeneinander aufzustacheln", sagte Nahles.
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast, griff Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wegen Zuspitzung in dem Konflikt an. "So wird eskaliert, so werden die Probleme schärfer, so werden Gräben ausgehoben zwischen Regierenden und Regierten", sagte Künast. Merkel bringe eine "unnötige Schärfe in politische Auseinandersetzungen", "indem die hochgerüstete Polizei vorgeschickt wird für etwas, was Politik nicht lösen will". Künast sieht die Kanzlerin auch in der Verantwortung, "wenn jetzt Schlagstöcke und Reizgas gegen Schülerinnen und Schüler eingesetzt werden". Die Demonstration sei schließlich lange angemeldet gewesen, kritisierte Künast.
Einsatz hat Nachspiel im Bundestag
Der massive Polizeieinsatz in Stuttgart wird ein Nachspiel im Bundestag haben. Der Innenausschuss will sich am Freitag auf einer Sondersitzung mit den Ereignissen beschäftigen. Der Bundestag gab einem entsprechenden Antrag der Linken statt, wie deren Fraktion mitteilte. Von besonderem Interesse sei das Vorgehen der Polizei, auch der eingesetzten Bundespolizisten in Stuttgart, sagte der Innenexperte der Linken, Jan Korte. Außerdem sollten die Abläufe vor Ort, die Zahl der Verletzten, die Strategie der Einsatzplanung sowie der Einsatz von Schlagstöcken, Wasserwerfern und Tränengas geprüft werden.
Gegen "Stuttgart 21" gibt es seit Wochen heftigen Widerstand aus der Bevölkerung. Der bisherige Stuttgarter Kopfbahnhof soll während der insgesamt zehnjährigen Bauzeit durch eine Verlegung in den Untergrund zu einer Durchgangsstation gemacht werden, außerdem soll in Richtung Ulm eine Schnellbahnverbindung entstehen. Die Gegner warnen vor hohen Kosten, ökologischen Folgen und angeblichen Sicherheitsgefahren durch das Bauprojekt.
Quelle: AFP, dapd
Bahn-Chef spricht "S21"-Gegnern Demorecht ab
Bahn-Chef spricht "S21"-Gegnern Demorecht ab
Der Bahn-Chef attackiert die Gegner von "Stuttgart 21": Alles sei demokratisch legitimiert, es gebe kein Recht auf Widerstand gegen den Bahnhofsbau, sagt Rüdiger Grube in einem Interview. Grünen-Chef Özdemir warnt dagegen davor, das Milliardenprojekt "durchzuprügeln".
Berlin - Nur ein Mann dürfte bei den Gegnern von "Stuttgart 21" ähnlich unbeliebt sein wie Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus - der Bahn-Chef Rüdiger Grube. Und der Vorstandsvorsitzende des Staatskonzerns bemüht sich auch nicht unbedingt, an diesem Bild etwas zu ändern. In der "Bild am Sonntag" bezeichnete er die Proteste gegen das umstrittene Bahn-Projekt "Stuttgart 21" nun als nicht gerechtfertigt. "Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau gibt es nicht", sagte Grube.
Das Bauprojekt sei demokratisch ausreichend legitimiert. "Bei uns entscheiden Parlamente, niemand sonst. Unsere frei gewählten Volksvertreter haben das Dutzende Mal getan: im Bund, im Land, in Stadt und Region. Immer mit großen Mehrheiten", sagte Grube.
Auf Seiten der Protestler haben in den letzten Wochen die Grünen die Rolle der Wortführer übernommen. Für sie könnte sich die Auseinandersetzung mit Blick auf die Landtagswahlen im nächsten Jahr auszahlen, in Umfragen liegt die Öko-Partei schon bei 27 Prozent, die Mappus-CDU nur noch bei 35 Prozent.
In der "Bild am Sonntag" ist es dann auch Parteichef Cem Özdemir, der Grube widerspricht. Er schreibt in einem Gastbeitrag, das Projekt sei angesichts der jüngsten gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht mehr durchsetzbar. "Stuttgart 21 kann nicht gegen friedliche Demonstranten durchgeprügelt werden."
"Sonst wird bei uns keine Brücke mehr gebaut"
Am Donnerstag waren die Proteste in Stuttgart eskaliert: Nach Behördenangaben wurden 130 Demonstranten bei dem Einsatz der Polizei von Wasserwerfern und Pfefferspray verletzt. Nach Angaben der Demonstranten gab es weitere 280 Verletzte. Auch sechs Polizisten erlitten Verletzungen.
Der Umbau des bisherigen Stuttgarter Kopfbahnhofs sorgt seit Wochen für Schlagzeilen. Während einer insgesamt zehnjährigen Bauzeit soll er durch eine Verlegung in den Untergrund zu einer Durchgangsstation gemacht werden, außerdem soll in Richtung Ulm eine Schnellbahnverbindung entstehen. Die Gegner warnen vor hohen Kosten, negativen ökologischen Folgen und Sicherheitsgefahren durch das Milliardenprojekt. Die Befürworter warnen davor, dass ein Scheitern von "Stuttgart 21" schwerwiegende Folgen für alle große Infrastrukturprojekte in Deutschland hätte.
Diese Gefahr hob auch Grube in der "Bild am Sonntag" erneut hervor: "Es gehört zum Kern einer Demokratie, dass solche Beschlüsse akzeptiert und dann auch umgesetzt werden. Sonst werden bei uns keine Brücke, keine Autobahn und kein Windkraftpark mehr gebaut."
Özdemir dagegen plädiert für einen Baustopp: Die Parlamente hätten "in Unkenntnis über die wahren Kosten und Risiken" über das Projekt abgestimmt. "Wir brauchen einen Baustopp, dann einen Volksentscheid", forderte der Grünen-Chef. Wenn die Befürworter sich ihrer Argumente so sicher seien, "sollten sie damit kein Problem haben".