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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Das digitale Ende der Schamgrenze



Burgerdri
13.01.07, 07:23
Exekutionen, Sexvideos und grausame Unfälle - wenn neue Anbieter so etwas im Internet zeigen, erfreuen sie sich rasant steigender Nachfrage. Das Web macht Kommunikation zu einer herrschaftsfreien Veranstaltung. Das mag man für geschmacklos halten. Doch wer hat je behauptet, dass zensurloser Diskurs nur die sympathischen Seiten des Menschens herauskehrt.

Sammy ist 19 Jahre alt, heterosexuell, und ihre Stimmung beschreibt sie als "gelangweilt". Beim Internetanbieter Stickam belegt sie Platz eins. 63 790 haben ihr Video angeschaut. Um das zu erreichen, hat sie ganz einfache Mittel angewandt. Sie tanzt in einer sehr kurzen Hose, das Hemd bedeckt nur unzureichend den Bauchnabel, und sie bewegt ihr Becken schwungvoll nach orientalischer Rapmusik. Im Hintergrund steht ein Bett mit einem blass violetten Überzug, auf dem zwei Stofftiere sitzen.

Stickams Reichweite hat sich in den vergangenen drei Monaten um 114 Prozent erhöht. Youporn.com, in dem, der Name lässt es erahnen, selbst gemachte Sexvideos ins Netz gestellt werden, zählt zu den beliebtesten 3000 Seiten im weltweiten Netz. Nicht schlecht für eine Firma, die im September 2006 startete.
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Den größten Sprung in dieser Woche machte die Videoplattform Liveleak.com, ermittelte Alexa.com, eine Messung der Internetnutzung spezialisierte Firma. Das Ziel des Anbieters - seit Oktober 2006 am Markt - ist es, dass "Menschen ihre Interessen teilen können und nur das Material sehen, was sie auch wirklich sehen wollen." Die steigende Nachfrage verdankt sie dem per Handy aufgenommenen Mitschnitt der Exekution des früheren Diktators Saddam Husseins.

Der Aufschwung der sozialen Netzwerkseiten erlebt seine zweite Welle. Ein Platzhirsch war bislang Youtube.com, auf dem jeder seine Videos zeigen konnte. Der andere ist Myspace.com, in dem vorwiegend junge Menschen über ihre Interessen via Blogs, Bilder, Videos und Audiobeiträge kommunizierten. Beide wachen seit einigen Monaten strenger darüber, dass weniger Anstößiges, Gewaltverherrlichendes, Pornografisches auf ihre Seiten kommt. Das geschieht nicht ohne Grund. News Corp, Konzern des Medienunternehmers Rupert Murdoch, hat MySpace übernommen; Google schluckte Youtube. Gerichtsverfahren und negative Berichterstattung wollen beide börsennotierten Firmen vermeiden.

In der zweiten Welle des Web 2.0. - im Grunde ist sie Web 2.1. - stellen Internetnutzer hingegen jegliche Bilder und Texte völlig unkontrolliert auf extra dafür erschaffene Webseiten. Was gezeigt werden kann, wird gezeigt. Auf Liveleak.com ist auf einem Video der islamistischen Army of Ansar Al Sunnah die Hinrichtung eines Mannes zu sehen, der rezeptpflichtige Pillen verkauft hatte. Auf Pandachute.com sind zwei Gangster zu beobachten, die ein Restaurant überfallen und von einem Sicherheitsmann gestellt werden. Einer von ihnen wird erschossen, der andere flieht. Stickam.com erlaubt die Übertragung von Live-Videochats mit anderen Nutzern. Myspace sträubt sich, da es fürchtet, dass dies das Einfallstor für Pädophile sein könnte.

"Dass man die Leute das machen lässt, was sie wollen, ist für Anbieter ein Weg, um sich von den Konkurrenten zu differenzieren", sagte Josh Bernoff, Analyst beim Forschungsinstitut Forrester Research der "New York Times", "es gibt ein Rennen zum Tiefpunkt".

Mag die Rasanz, mit der diese neuen Internetseiten an Popularität gewinnen, überraschend sein, ihre Entwicklung ist es mitnichten. Das Medium Internet gleicht einem permanenten Hase-und-Igel-Spiel. Immer wieder versuchten Behörden oder Unternehmen das ungezügelte Treiben im Internet zu bändigen. So nahmen 1995 Polizeibeamte in München den deutschen Chef des Onlinedienstes Compuserve fest, da in einigen seiner Newsgroups in den USA Kinderpornos vertrieben wurden.

Solche Anwendung staatlicher Gewalt ist in demokratischen Ländern passé. Politiker warnen allenfalls gelegentlich vor Gefahren des Internets. Die Kapitulation vor dem Faktischen ist eindeutig. Nur: Was ist davon zu halten?

Unbestritten ist, dass das Internet als Kommunikationsplattform Menschen verbindet. Allerlei Spielarten gibt es: Chats für werdende Mütter, Foren über die Band Rammstein, die Skat-Runde im Netz. Menschen treffen sich, die sonst nie zueinander gefunden hätten. Das ist die liebenswerte Variante. Die fiese Seite sind Hass-Pages der Neonazis, auf denen Hetzjagd auf Politiker, Juden und Journalisten gemacht werden. Es sind Seiten, die Gewalt verherrlichen und Hass predigen. Frage Google, wie man jemanden umbringen kann, und du wirst einige ziemlich eindeutige Antworten bekommen, erzählte Regisseur David Cronenberg über seine Recherche für den Film "A History of Violence".

Das Internet ist zu einer herrschaftsfreien Plattform erwachsen. Zu jeder noch so obskuren Haltung gibt es eine nicht minder obskure Gegenthese. Kein Blog, auf dem ein Verfasser unwidersprochen bleibt. Im Internet ist jeder Mensch gleichgestellt. Hautfarbe, Bildung, Herkunft werden unbedeutend. Was zählt, ist, dass der Mensch sagen kann, was er zu sagen hat.

Wer schon immer herrschaftsfreien Diskurs, einen alten Traum der Linken, wollte, hier ist er. Und wer Vertrauen in die Menschen hat, selbst über Gut und Böse entscheiden zu können, ein Dogma der Liberalen, kann die Kommunikationsflut im Internet nur begrüßen.

Der Philosoph Vilém Flusser, der 1991 starb und die Entwicklung des Internets in einer nahezu unheimlichen Prophezeihungskraft vorhersagte, hielt den Siegeszug der telematischen Gesellschaft für möglich. Sie ist geprägt durch den Wegfall der Autoritäten und aufgrund ihrer vernetzten Struktur völlig undurchsichtig. Durch die Überwindung der räumlichen Distanz erlange der Mensch neue Freiheit. Diese Freiheit aber habe einen Preis: "Es handelt sich um die Aufforderung, Hals über Kopf in den Abgrund des Unbekannten zu springen." Denn unsere lieb gewonnenen Werte und Kategorien verlieren an Kraft. Das Netz lehrt den moralischen Relativismus, das ständige Abwägen der eigenen Position, die Herausforderung eines ständigen Diskurses.

Bleibt die Frage nach Gewalt und Sex im Netz. Ihre Popularität ist nicht neu, nahezu jede technische Entwicklung verdankte ihren Aufstieg den beiden Faktoren. Bereits vor knapp hundert Jahren wurden "Herrenfilme" gedreht; anonym produzierte Pornofilme mit unbekannten Darstellern.

Genauso beförderte Gewalt den Siegeszug der Bewegtbilder. Der Stummfilm "The Birth of a Nation" von 1915 ist eines der bedeutendsten Streifen der US-Filmgeschichte. Das Melodram aus den Zeiten des Bürgerkrieges spart nicht mit Kämpfen, Rassismus und der Verherrlichung des Ku-Klux-Klans.

Sex und Gewalt sind Grundbestandteile des menschlichen Daseins. Wer das akzeptiert, den verwundert nicht, dass diese Faktoren die Verbreitung des Fernsehers und Camcorders, der Videorekorder, Digitalkameras und Handys förderte. Der nächste Schritt sind Pressemitteilungen wie die von Povpod, Porno-Anbieter für Apples iPod, mit der Frage: "Ist das ein iPod in deiner Hose, oder bist du einfach nur glücklich mich zu sehen?"

Wer Sex und Gewalt im Internet als Synonym für das Web an sich nimmt, hat nichts von der technischen Revolution verstanden. Sie sind Beschleuniger einer Entwicklung, die die Welt zu einem demokratischen Marktplatz gemacht hat. Die alten Kontrolleure über Informationen - Politiker, Unternehmer, Journalisten - verlieren ihre Macht. Mal sehen, ob der Rest der Menschheit es besser macht.

Quelle:
http://www.welt.de/data/2007/01/09/1168151.html

sunnyjonny
13.01.07, 10:28
Das Internet ist zu einer herrschaftsfreien Plattform erwachsen.
Zu jeder noch so obskuren Haltung gibt es eine nicht minder obskure Gegenthese.
Kein Blog, auf dem ein Verfasser unwidersprochen bleibt.
Im Internet ist jeder Mensch gleichgestellt.
Hautfarbe, Bildung, Herkunft werden unbedeutend.
Was zählt, ist, dass der Mensch sagen kann, was er zu sagen hat.
Wer schon immer herrschaftsfreien Diskurs, einen alten Traum der Linken, wollte, hier ist er.
Und wer Vertrauen in die Menschen hat, selbst über Gut und Böse entscheiden zu können, ein Dogma der Liberalen, kann die Kommunikationsflut im Internet nur begrüßen....
Genau DAS ist es, was Konservative so schreckt:
Sie können (noch) nicht vorgeben, wo es längs geht.
Sie können keine allgemein gültigen Grenzen nach IHREN Kochrezepten vorgeben.
Und sie können den freien Geist und die freie Meinung nicht einschränken und abstrafen.
Noch nicht.
Hoffentlich noch LANGE NICHT!

Aber sie arbeiten daran... :1: